Drachenschicksal (Angriff auf Ragond 1)
Exklusiver Auszug
In Gedanken verloren umrundete sie den Felsvorsprung und machte sich auf den Weg zurück auf den Hügel, um einen Weg über den Gipfel des Kamms zu finden. In ihrer Eile erhaschte sie jedoch aus dem Augenwinkel einen Blick auf das Ei. Beim Atem des Trolls. Kira hatte vergessen, warum sie sich überhaupt auf die Suche nach dem toten Drachen gemacht hatte. Was jetzt? Sie musste wirklich nach Caravon, aber sie konnte das Ei nicht hier liegen und den kleinen Drachen sterben lassen, nachdem sie jetzt wusste, dass die Mutter nicht zurückkommen würde. Sie blieb neben dem Steinhaufen stehen und dachte nach.
„Na schön“, murmelte sie und kletterte wieder in das Nest. „Ich werde es einfach mitnehmen müssen. Vielleicht, wenn ich es bis zur Straße tragen kann, könnte ich jemanden mit einem Karren dafür bezahlen, dass er es den Rest des Weges nach Caravon oder nach Stonehaven bring, oder wo auch immer verlassene Dracheneier hingebracht werden.“
Sie seufzte und schaute sich das unhandliche Ei an.
„Das wird schwierig.“
Sie bückte sich und legte die Arme um das Ei, um zu sehen, wie schwer es war. Sobald sie es aufgehoben hatte, hätte sie es fast wieder fallen lassen, da ein Schock durch ihren Körper lief – ein Pulsieren, das sich anfühlte, als ob ihr Herz ihren ganzen Körper erfüllte und erst dann wieder zu schlagen begann. Ihre Arme und Beine zitterten und jedes einzelne ihrer Haare schien zu Berge zu stehen. Langsam, aus Angst, dass ihre weich gewordenen Armmuskeln sie im Stich lassen würden, senkte Kira das Ei wieder auf den Boden und trat zurück. Sie holte ein paar Mal Luft und beugte sich vor, bevor sie es wagte, sich wieder aufzurichten. Ihr Herz raste, aber es schien ihr gut zu gehen. Was in aller Welt war das gewesen? Sie schaute wieder zu dem Ei.
„Oh. Ich … oh – ach. Oh.“ Kira hatte gehört, wie ihre Mutter sagte, ihr „fehlten die Worte“, aber bis zu diesem Augenblick hatte sie dieses Gefühl nie selbst erlebt. Die Oberfläche des Eis war gerissen, von einem Netz dünner Linien überzogen wie das zarteste aller Spinnennetze. Hatte sie das getan? Vielleicht hatte sie das Ei zu fest gepackt, als sie es aufhob, oder es zu hart aufgesetzt … aber selbst, als sie diese Möglichkeiten in Betracht zog, verwarf sie sie, weil noch etwas anderes im Gange war. Es ertönte ein klopfendes Geräusch und ein Stück Schale oben auf dem Ei verschwand plötzlich, fiel in sich selbst zusammen. Der Drache schlüpfte.
„Das kann einfach nicht sein“, murmelte Kira, als schon die Schale des Eis weiter zerbröckelte und sie durch das neue Loch im Inneren Bewegungen wahrnahm. Wie konnte das sein? Was sollte sie jetzt tun? Es war eines, sich zu überlegen, ein intaktes Ei mit nach Caravon zu nehmen, so unhandlich und schwer das gewesen wäre. Es war etwas völlig anderes, einen frisch geschlüpften Drachen mitzunehmen! Wie sollte sie ihn füttern? Wie viel Pflege würde er brauchen? Sie musste JETZT GLEICH nach Caravon. Sie konnte doch nicht die Verantwortung für einen ganzen Drachen übernehmen! Einen lebenden, atmenden, echten Drachen. Sie schüttelte den Kopf und hielt eine Hand vor dem Ei hoch, als ob sie das Schlüpfen aufhalten und es wieder zusammensetzen könnte. Sie hatte bereits Zeit verloren, um die Mutter des Eis zu finden, und Axel brauchte ihre Hilfe.
Was würde ein echter Drachenreiter tun, fragte sich Kira: zuerst ihren eigenen Drachen retten oder die Verantwortung für ein wehrloses Drachenbaby übernehmen?
Doch als sie an Axel dachte, kam ihr in den Sinn, wie der Drache sie während ihrer Kindheit beschützt und umsorgt hatte, und wie lieb und sanft er immer mit ihr umgegangen war, trotz seiner Vergangenheit als wilder Kämpfer mit Eli. Plötzlich wusste sie, was er von ihr erwarten würde. Sie konnte seine krächzende Stimme fast hören. Er würde ihr sagen, sie müsste dieses verlassene Baby beschützen, ganz gleich, in wie großer Gefahr er selbst schwebte. Das fühlte sich irgendwie einfach richtig an. Drachenreiter sollten ALLE Drachen schützen, nicht nur ihren eigenen. Und wenn Kira eines Tages wirklich eine große Drachenreiterin sein wollte, musste sie das tun, was richtig war, nicht nur das, was ihr am Herzen lag… auch wenn das etwas so Edles war, wie Axel zu retten. Sie war so in diese Gedanken versunken, dass sie fast vergessen hatte, was sich direkt vor ihr abspielte, aber ein schrilles Quieken brachte sie zurück in die Gegenwart.
Die Vorderseite des Eis war fast vollständig zertrümmert und zeigte ein mit gelben Kristallen ausgekleidetes Inneres. Als Kira hinschaute, wurde eine kleine, hellbraune Schnauze durch das Loch gestreckt. Die Nüstern blähten sich, als der winzige Drache Luft schnupperte. Dann ragte ein Fuß mit Krallen heraus und fand Halt auf dem felsigen Boden, dann der nächste. Die Schnauze kam ganz heraus, gefolgt von dem ganzen Kopf und der Hals des Drachenbabys streckte sich zu seiner vollen Länge, als das kleine Geschöpf sich in seiner Umgebung umschaute. Der Körper, an dem die Flügel noch fest anlagen, hatte ungefähr die Größe eines mittelgroßen Hundes, aber länger und tiefer am Boden liegend. Kira fiel entzückt auf die Knie.
„Hallo, kleines Baby!“, hauchte sie und der Drache richtete seinen Blick auf sie, seine bernsteinfarbenen Augen waren groß wie Untertassen, als er sie anstarrte. Kira lachte und das frischgeschlüpfte Kleine öffnete das Maul, als wollte es sie imitieren und quiekte wieder. Es taumelte ein paar Schritte nach vorn, schüttelte den Rest der Schale von seinen Hinterbeinen und entfaltete einen langen Schwanz hinter sich, was es zu erschrecken schien. Er schaute hilfesuchend zu Kira und sie streckte die Hand aus. Vorsichtig streckte der Drache seinen Hals so weit wie möglich aus und schnüffelte an ihrer Handfläche. Er bewegte sich ganz aus dem Nest heraus, um zu ihr zu kommen und Kira hielt den Atem an – als die Sonne auf die blassen, grünlich-braunen Schuppen fiel, wurden sie von einem goldenen Glanz überzogen. Die meisten Drachen glänzten im Sonnenlicht wie Kupfer, Kira hatte noch nie einen so prachtvollen goldenen Glanz gesehen.
„Du bist so schön!“, sagte sie und lachte wieder, woraufhin der Drache den Kopf schräg legte und ihr Gesicht musterte. Dann kletterte er halb auf ihren Schoß und legte seinen Kopf auf ihren Arm. Kira streichelte ihn sanft mit der anderen Hand und fühlte die nach dem Schlüpfen noch weichen Schuppen, die samtigen Flügel, die an den Seiten des kleinen Geschöpfs noch zusammengefaltet lagen und die schon scharfen Krallen an seinen Klauen. Sie bemerkte, dass die Hörner im Verhältnis zu seinem Kopf kleiner waren als Axels, und sie wusste, dass dies ein Anzeichen dafür war, dass dieser kleine Drache weiblich war. Das Tier gähnte zierlich und die Sonne ließ die Schuppen wieder wie pures Gold aufblitzen.
„Gilda“, sagte Kira. „Das ist dein Name. Gilda.”
Das Drachenmädchen versuchte, ihre bernsteinfarbenen Augen auf Kira zu richten, schien aber zu müde zu sein. Ihre Augenlider schlossen sich und sie schlief sofort ein, was Kira Gelegenheit gab, jedes Detail dieses kleinen, wundersamen Tierchens in sich aufzusaugen, dass sich so völlig ihrer Obhut anvertraut hatte. So also sah ein Babydrache aus, dachte sie. Vielleicht würde dies doch nicht so schwierig werden.